Wer sind eigentlich diese Freien Wähler? Eine Analyse.
Nach dem Erfolg bei der Landtagswahl zieht die Partei auch in Rheinland-Pfalz ins Landesparlament ein. Sie profitiert dabei von einem pragmatischen Politikansatz.
Als die ersten Hochrechnungen zur Landtagswahl in Rheinland-Pfalz am Sonntag über die Bildschirme liefen, war selbst Hubert Aiwanger überrascht, berichtet die Neue Züricher Zeitung (NZZ). Das gibt der Chef der FREIEN WÄHLER am Tag danach im Gespräch mit der NZZ unumwunden zu. Die FREIEN WÄHLER in Rheinland-Pfalz haben das geschafft, was zuvor nur in Brandenburg und Bayern, wo sie sogar Regierungsverantwortung trägt, gelungen war: den Einzug in das Landesparlament und damit die grösste Überraschung an diesem Wahlabend.
Mit einem Stimmenanteil von 5,4 Prozent stellt die Partei künftig sechs Abgeordnete im Mainzer Landtag. Ausreichend viele, dass in den Sondersendungen zum Wahlausgang gar über eine «Papaya»-Koalition spekuliert wurde, also eine Regierung aus CDU, Grünen und den Freien Wählern statt der FDP wie bei «Jamaica». Doch diese Kreation wurde im Hinblick auf den klaren Sieg der SPD und vor allem das schlechte Abschneiden der CDU schnell verworfen.
Eine Alternative jenseits der AfD
Laut einer Nachwahlanalyse ist es den FREIEN WÄHLERN gelungen, sowohl der SPD ebenso wie dem Verlierer CDU, besonders viele Stimmen abzujagen. Von den rund 103 000 Wählern in Rheinland-Pfalz, die am Sonntag für sie stimmten, hatten rund 17 Prozent bei der letzten Landtagswahl noch die SPD gewählt; 19 Prozent kamen von der CDU.
Besonders stark schnitten die Freien Wähler bei den 35- bis 44-Jährigen sowie den Selbständigen ab. Diese dürfte vor allem die Kritik der Partei an der Corona-Politik von Bund und Ländern überzeugt haben. Spitzenkandidat Joachim Streit konnte glaubwürdig Massnahmen und Strategien als falsch und unklar kritisieren, die seine Mitbewerber auf Bundes- oder Landesebene mitgetragen hatten.
Im Wahlkampf forderten die Freien Wähler die Öffnung von Geschäften, Hotels und Gaststätten sowie eine unbürokratische Auszahlung der Corona-Hilfen für Selbständige. Anders als die rechtspopulistische Alternative für Deutschland vergriffen sie sich in ihrer Regierungskritik nie im Ton, sondern präsentierten sich stets als Partei der pragmatischen Lösungen für praktische Probleme – und das nicht primär in Berlin oder Mainz, sondern in dem mehr ländlich geprägten Rheinland-Pfalz.
Der promovierte Jurist und Landrat Joachim Streit verkörperte äussert erfolgreich dieses Profil einer Sachpolitik jenseits von Parteiideologien und mit fester Verankerung im Lokalen.
Entsprechend gelang es ihm, vor allem in ländlichen, ehemals von der CDU dominierten Gegenden zu punkten. Die CDU litt bei diesen Wahlen aber nicht nur unter der Unzufriedenheit mit der Corona-Politik, sondern auch unter den kurz zuvor bekanntgewordenen Masken-Affäre einiger Abgeordneter. Beides hinterliess bei vielen – nicht nur bei CDU-Wählern – Frust und den Eindruck, die Politik in Mainz oder Berlin sei nicht nur bürokratisch, sondern auch korrupt.
Partei, ohne Partei zu sein
Dass die FREIEN WÄHLER eine glaubwürdige Alternative zu den bestehenden Parteien sind, liegt auch an ihrer Entstehungsgeschichte: Nach dem Zweiten Weltkrieg starten politisch engagierte, aber nicht in Parteien organisierte Bürger als Freie Wähler Gruppen und Freie Wählergemeinschaften. Im Laufe der Zeit entstehen aus diesen Wählergemeinschaften überregionale Landesverbände und schliesslich die Landesvereinigung FREIE WÄHLER
Als Ziel gilt seit Anbeginn, auf kommunaler Ebene Dinge voranzubringen. Damit sind die FREIEN WÄHLER erfolgreich und ziehen bei den Kommunalwahlen in Rathäuser und Gemeinderäte ein. Bis in die 1990er Jahre werden immer mehr überregionale Landesverbände gegründet. Diese dürfen nicht an Landes- oder Bundestagswahlen teilnehmen, denn sie bilden keine Partei, was von den Mitgliedern so gewollt ist.
Entsprechend gross ist deshalb anderswo die Entrüstung, als die Bayern 1998 mit der Landesvereinigung der FREIEN WÄHLER eine Partei gründen, um erstmals an Landtagswahlen teilzunehmen. 2008 ziehen sie mit 10,2 Prozent in den bayrischen Landtag ein. Anfangs wurden sie von der politischen Konkurrenz belächelt, doch nach der Landtagswahl 2018 zwingt das schlechte Abschneiden der CSU Markus Söder dazu, eine Regierungskoalition mit den FREIEN WÄHLERN einzugehen.
Dabei gibt sich Aiwanger als stellvertretender Ministerpräsident und Wirtschaftsminister gern bodenständig. Doch nun strebt der Parteichef nach Grösserem und will mit den FREIEN WÄHLERN in den Bundestag einziehen. Denn, so Aiwanger: «Die Freien Wähler werden im Bundestag gebraucht.» schreibt die NZZ. Das Erreichen der 5-Prozent-Hürde forderte der Partei allerdings einen Riesensprung ab; bei der Bundestagswahl 2017 hatte sie 1,0 Prozent der Stimmen erhalten.
Quelle: Neue Züricher Zeitung, 17.03.2021